Die Welt mit den Augen eines Anderen sehen Geschichten und Menschen gehören untrennbar zusammen – wir lieben es, Geschichten über die Erlebnisse anderer Menschen zu hören. Die Welt mit den Augen eines Anderen zu sehen kann ein gewaltiges Erlebnis sein: es kann die Welt verändern. Und genau darum ging es in der Woche, die wir in Portalegre, Portugal, mit über 20 anderen Interessierten aller Altersklassen und aus allen Ecken Europas mit einem Training zur Lebendigen Bibliothek verbracht haben.

Eine Lebendige Bibliothek ist im Grunde sehr simpel: Der Leser wählt ein Buch aus und liest es. Nur sind die Bücher nicht aus Papier, es sind Menschen, die von einem Erlebnis aus ihrem Leben erzählen. Anders als in einem Vortrag erzählen sie diese Geschichte aber nicht einer größeren Gruppe, sondern einer einzelnen Person, dem Leser. Dieser kann auch mit dem Buch sprechen und Fragen stellen. Die Auswahl des Buches erfolgt anhand einer Kurzzusammenfassung. So weiß der Leser von vorneherein nicht, ob die Geschichte von der Überquerung des Mittelmeeres von einem 18jährigen Flüchtling, einer 35jährigen Abenteuerin oder einem 70jährigen Fischers erzählt wird. Der Leser weiß nicht, welche Person sein Buch sein wird. Doch einem Menschen zuzuhören, wie er eine Geschichte aus seinem Leben erzählt, von seiner Liebe, von seinen Verlusten – dann mit dieser Person zu interagieren, das schafft eine Verbindung zwischen Leser und Buch, zwischen zwei Menschen. Der Leser sieht das Buch nicht mehr als Flüchtling, als psychisch Kranken, als Muslim, sondern als eine Person, die ähnliche Erlebnisse hatte wie er selbst. Lebendige Bibliotheken schaffen Gelegenheiten für Begegnungen zwischen Menschen, die sich nie treffen und vielleicht auch von sich aus nie miteinander reden würden. Geschichten mit Anderen zu teilen hilft uns dabei, nicht mehr Stereotype, sondern Menschen zu sehen und zu respektieren.

Die meisten Teilnehmenden des Trainings haben zum ersten Mal von der Methode der Lebendigen Bilbiothek gehört, und so gehörte viel theoretische Vorarbeit zur Methode und zum Thema Flucht, dem inhaltlichen Fokus, zum Programm . Am Ende der Woche führten wir eine eine Lebendige Bibliothek zum Thema „Reisen“ für eine Schulklasse und interessierte Einwohner der 15000-Einwohner-Stadt Portalegre durch. Mit Hilfe einiger nach Portalegre geflohenen Menschen und unseren eigenen Erfahrungen konnten wir 10 Bücher bereitstellen. Von dem Feedback und der Macht der Begegnung waren wir alle sehr überrascht! Wir sind hier in Thüringen zwar bereits Teil einer Lebendigen Bibliothek, sie unterscheidet sich jedoch konzeptionell etwas von der, die wir in Portugal erlebten, und so war die Veranstaltung selbst sehr spannend für uns. Und dann war da noch trockenwarmes Wetter während es in Deutschland wie aus Kübeln schüttete, wilde Tanzeinlagen in Lederhosen, köstlicher Kaffee und die besten Oliven unseres Lebens, neue und tiefe Freundschaften, und vieles mehr ...

Anja Lück & Hannah Greinke